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Martti saß schon eine Weile im Gemeinschaftsraum als Edgar aus der Dusche kam. Das Tapsen der riesigen Füße übertönte kurz die Geräusche, die von der Treppe kamen.

»Hast Du jedes Haar einzeln abgetrocknet?« Martti schaute nicht einmal von seinem Tablet auf. Nach dem Morgentraining hatte er keine Kraft mehr dazu.

Edgar brummte. »Du und deine Teflonhaut. Ich wette, du warst schon wieder trocken als Du aus der Dusche gestiegen bist.«

»Kaum dass ich das Wasser abgedreht habe«, sagte Martti.

Edgar schüttelte nur den Kopf. Offenbar war ihm Marttis Nicht-Mutation nicht geheuer. Er wechselte das Thema. »Was liest Du?«

»Seykey hat mir aus jedem Fachgebiet ein Grundlagenbuch gegeben. Das hier ist Geschichte.«

»Muss ja echt kurz sein: Landung, Gründung, Aufbau, Krieg.«

Martti schaute hoch. Ein zynischer Edgar war besser als ein deprimierter. »Es geht auch um die Geschichte der Erde. Vor der Kolonisation.«

»Also: Krieg, Krieg, Frieden, Bau der Arche?«

Martti musterte Edgar, während der in seinen Büchern blätterte. Offenbar bevorzugten Geologen, ihr Wissen über tote Steine immer noch auf toten Bäumen zu vermitteln.

»Wenn Du Geschichte als Aneinanderreihung von Ereignissen betrachtest, dann schon. Dieses Buch vermittelt einem die Gründe für jedes dieser Ereignisse.«

»Und das macht es spannender? Zu wissen, warum irgendwas passiert ist, das du nicht mehr ändern kannst, ist besser als nur zu wissen, dass es passiert ist?«

»Naja, es erklärt, warum Dinge so sind, wie sie sind. Außerdem hilft es dabei, Vorhersagen zu machen. Leute machen offenbar immer den gleichen Mist. Wenn Du also die Situation erkennst, kannst Du einfach in der Vergangenheit nachsehen, welche Aktion der Beteiligten zu welchen Konsequenzen geführt hat.«

»Ändert die Erklärung den gegenwärtigen Zustand? Nein. Also, warum muss ich damit meine Zeit verschwenden?«

Martti kicherte. »Die Erklärung ändert nicht den Zustand. Nur Deine Einstellung dazu.«

»Versteh ich nicht.«

»Ich geb Dir ein Beispiel. Dein Rüssel – zum Beispiel – ist die direkte Folge davon, dass Leute zu faul zum Laufen sind.«

Edgar wirkte komplett verwirrt.

»Kurz vor dem Krieg gab es eine Abstimmung, ob die Maglev gebaut wird oder ein Mass Driver, um Hilfsgüter nach Pietrocarro zu schicken. Die Technologie ist identisch, der Aufwand und die Kosten auch. Die Leute haben sich dafür entschieden, bequemer reisen zu können. Dadurch war der General gezwungen, Nutrocarro anzugreifen, um die Ressourcen zu erobern. Als Folge davon haben wir uns verteidigt und darum hat der General die Biowaffen eingesetzt. Die Gene Deines Vaters wurden dadurch verändert und darum kannst Du riechen, wenn am anderen Ende der Stadt jemand einen fahren lässt.«

Edgar war einen Moment still. Seinem Gesichtsausdruck nach rekonstruierte er im Kopf die Ereignisse. »Und das steht in dem Buch?«

»Nicht direkt. Allerdings erklärt das Buch, wie man solche Argumentationsketten aufbaut.«

Edgar starrte Marrti einen Moment lang an, dann schlug er ein Buch auf. »Das klingt eher, als hättest Du Dir eine Erklärung gesucht, die zu den Ereignissen passt, statt alle unmöglichen Erklärungen auszuschließen, bis nur noch die Wahrheit übrig bleibt. Nicht sonderlich wissenschaftlich, wenn Du mich fragst.«

Martti vertiefte sich wieder in sein Buch. Er hatte keine Lust, Edgar zu widerlegen. Dazu müsste er ihm erzählen, was er bei den Tests der Software seiner Masterarbeit gefunden hatte. Selbst wenn er es ihm glauben würde, würde es wohl das Weltbild des Schnösels erschüttern.

Nach ein paar Seiten gab er auf. »Bei dem verdammten Lärm kann ja kein Mensch arbeiten.«

»Das sind doch nur die Senioren. Teenager, die Teenager-Streß mit einander haben.«

Martti glitt rückwärts vom Sessel. In der Bewegung legte er das Tablet auf den Tisch. Nur ein paar Zentimeter über dem Boden schlängelte er sich in Richtung Treppe. Es hatte Wochen gedauert, den Instinkt abzulegen, aufrecht zu gehen. Mit acht, extrem beweglichen Tentakeln war es deutlich bequemer und schneller, über den Boden zu kriechen.

Edgar schaute ihm hinterher, wobei er ein Gesicht machte, als hätte man ihm gerade erklärt, woraus sein Frühstück wirklich zubereitet war.

Martti quetschte sich durch die Stangen des Geländers. An einem Arm ließ er sich in die nächste Etage hinunter. Seine Beintentakel hatten schon lange das Geländer gepackt, bevor er mit den Händen losließ.

An allen acht Armen hängend, schaute er sich die Szene im ersten Stock an: Zwei Senioren warfen sich ein Plüschtier zu, über den Kopf der heulenden Besitzerin. Die beiden Jungs waren 15 oder 16 Jahre alt, das Mädchen um die acht. Sie alle waren – wie Martti sehr zu Seykeys Missfallen die Mutation nannte – Werwölfe. Ihre Mutation sorgte für kurze, dichte Haare am ganzen Körper und im Gesicht.

Während das Plüschtier hin und her flog, sprang das Mädchen hoch, um es zu fangen. Wie alle Werwölfe zeigte die Sprunghöhe, dass sie unnatürlich stark war. Dazu kam, dass ihre Knochen stabiler und ihre Haut dicker als bei normalen Menschen war. All das floß intuitiv in Marttis Planung ein.

Es dauerte einen Moment, bis er wußte, was zu tun war. Lautlos tropfte er auf den Boden. Theatralisch langsam richtete er sich auf. Bis zu dem Senior, der mit dem Rücken zu ihm stand, waren es vier Schritte.

Martti nutzte sie als Anlauf. Er sprang dem Jungen auf die Schultern. Bevor der etwas merkte, hingen siebzig Kilo Martti vorn an seinem Hals. Da sich der Student streckte, vervielfachte sich seine Kraft. Der Senior machte einen Schritt nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten. Martti setzte alle vier Arme auf den glatten Boden, spannte die Lamellen an und zerrte mit aller Kraft nach vorn.

Auf ein Fenster zu. Der Senior wurde immer schneller, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu knallen. Martti setzte die Tentakel genauso schnell voreinander. Im richtigen Moment stoppte er. Dann zog er nach unten.

Der Schüler rollte über Martti. In der Bewegung bog Marrti die Tentakel nach hinten. Zwei hielten weiter den Hals, sechs trugen den Schüler. Als er das komplette Gewicht auf sich spürte, rollte er sich zusammen. Ohne Rückgrat konnte er im Hohlkreuz seine Schultern an die Hüfte bringen.

Im perfekten Winkel streckte er alle sechs Tentakel. Die beiden am Hals des Schülers ließen einen Moment später los. Wie eine haarige, kreischende Kanonenkugel durchschlug der Senior das Fenster.

Bevor der Aufschlag zu hören war, hatte sich Martti an der Wand abgestoßen. Er trat dem anderen Rüpel gleichzeitig ins Gesicht und in den Bauch. Dabei hielt er ihm die Beine fest. Weniger elegant als sein Freund folgte der zweite Schüler dem Ruf der Schwerkraft: Die Treppe hinunter.

Martti fing das Plüschtier auf, orientierte sich kurz und stellte sich dann mit den Beinen in Richtung Boden vor dem versteinerten Mädchen auf. Mit einem Lächeln reichte er ihr das Spielzeug.

Erst dann bemerkte Martti die Mienen der Schüler im Gemeinschaftraum. Abscheu war noch die netteste Emotion, die ihm entgegen schlug. Die anderen Senioren schienen seine Aktion so gar nicht gutzuheißen. Klasse, ein ganzes Stockwerk voller Rüpel.

»Wenn ich noch einmal einen von Euch erwische, wie er unterlegene Schüler schikaniert, gibt’s eine Abreibung gegen die das hier ein Klaps auf den Hintern war. Ihr seid gewarnt.«

Martti drehte sich zur Treppe hin. Auf dem Weg nach unten packten die beiden linken Arme die Ohren des sich aufrappelnden Schülers. Machtlos gegen die Kraft des Luftdrucks konnte er sich nicht befreien. Wie an der Leine geführt folgte er Marrti.

Auf den Steinen vor dem Haus schnappte der den anderen Schüler. Gleichzeitig wich er den Scherben aus. Viele waren es nicht: die meisten steckten in dem Rüpel.

Unter Geschrei und Gezeter zerrte er die beiden in Seykeys Büro. Er stürmte ohne Anmeldung hinein und drückte dann die beiden Senioren vor dem Tisch der Schulleiterin auf den Boden.

»Diese beiden Herren fanden es unterhaltsam, einer Zweitklässlerin Eigentum zu entwenden und sie dann danach jagen zu lassen, wobei sie erwähntes Eigentum außerhalb ihrer Reichweite hielten.«

Seykey schaute von ihrem Bildschirm hoch. »Und was soll ich Deiner Meinung nach jetzt tun? Sie noch einmal aus dem Fenster werfen?«

»Ich gehe davon aus, dass es für solche Fälle irgendwelche Strafen in der Schulordnung gibt.«

Seykey schüttelte den Kopf. »Wir lehren Eigenverantwortung. Jeder Schüler und jeder Lehrer entscheidet selbst, ob und wie er auf das Verhalten anderer reagiert.«

Martti war so überrascht, dass er seine Lamellen entspannte. Schließlich sagte er: »Ab zur Krankenstation.«

Die beiden Schüler waren in einem Sekundenbruchteil verschwunden.

Seykey schaute ihnen hinterher. Mit einem Seufzer drehte sie sich zu Martti.

»War das wirklich nötig? Eine Ermahnung hätte auch gereicht.«

Martti legte den Kopf schief. »Du bist in Deinem Leben nie schikaniert worden, stimmt’s? Weder vor noch nach Deiner Mutation.«

Seykey schüttelte den Kopf. »An meiner Schule gab es so etwas nicht. Die Schüler waren alle … gut erzogen.«

»Ah. Ihr Schnösel terrorisiert also nur die unteren Schichten. Gut zu wissen. Und nein, eine Ermahnung wirkt bei Leuten nicht, die Schwächere schikanieren. Erst wenn sie mehr Angst vor den Folgen haben als Spaß am Quälen, hören sie auf.«

Seykey musterte Martti von oben bis unten. Er hielt dem Blick aufrecht stehend stand.

»Also gut. Du hast den Job.« Seykey schaute Marrti in die Augen.

»Job? Was für einen Job?«

»Lehrer. Ab morgen unterrichtest Du Mathematik und Informatik. Klassen 1 bis 10. Die Lehrpläne und Dein Stundenplan kommt in den nächsten Minuten per email. Entlassen.«

Martti war so perplex, dass er den Raum ohne Widerworte verließ.


Submitted: February 16, 2025

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