»Es wird im allgemeinen erwartet, dass man ausserhalb seiner Wohnung eine Hose und ein Hemd trägt.« Martti klebte in der oberen Ecke von Edgars Türrahmen wie ein sarkastischer Albtraum.
»Zieh Du mal ein Hemd mit solchen Klauen an.«
Martti blieb still. Zwei Tentakel in ein Hosenbein zu zwängen, um die gesellschaftlichen Konventionen zu erfüllen, war schlimm genug. Edgars dichtes Fell verlangte sehr luftige Kleidung. Seine Klauen, die sich durch Beton graben konnten, würden wohl auch mittelalterliche Kettenhemden aufreißen.
»Ich wollte eigentlich vor dem Berufsverkehr los. Jetzt warten wir ewig auf ein Pod. Entweder das oder wir teilen uns einen.«
Edgar zuckte zusammen. »Mit … Menschen?«
»Jap. Echten mit zwei Armen, zwei Beinen und ganz ohne Fell.« Martti genoß den Ausdruck puren Entsetzens auf Edgars Gesicht.
»Warum schleppst Du mich da raus?«
»Verkettung unglücklicher Umstände: Leon weigert sich, mir den Rest meines Zeugs zu schicken und ist bei sowas generell eher … ungeschickt. Dann habe ich noch ein kleines anatomisches Problem, wie Dir vielleicht aufgefallen ist. Ich brauche Hilfe beim Tragen.«
Edgar nickte.
»Ich hab ein paar Hände zu wenig.« Martti ließ seine Beine auf den Boden hinab.
»Bis Foundation Central sind wir allein«, sagte Martti. »Danach wird’s voll.«
Für eine Viertelstunde saßen sich die beiden Studenten schweigend gegenüber. Edgar nahm beide Plätze auf seiner Seite ein. Als der Pod in eins der hundert Docks einfuhr, kletterte Martti in das Gepäcknetz. Eingerollt in dem violetten Hoodie und den weiten Hosen sah er wie eine vergessene Jacke aus.
Edgar zog seine Kapuze tief ins Gesicht. Die Hände verschwanden in den gegenüberliegenden Ärmeln. Ein oberflächlicher Beobachter würde ihn für einen Bodybuilder halten. Einen sehr, sehr fleißigen Bodybuilder.
Zwei Handwerker rollten einen Werkzeugkoffer in den Pod. Edgar zog seine Beine an den Sitz, um Platz zu machen. Trotzdem passten Koffer und Besitzer nur mit viel Mühe in den Pod. Die beiden Männer schwiegen, warfen sich aber immer wieder Blicke zu. Gleichzeitig schauten sie so offensichtlich nicht zu Edgar hinüber, dass es sogar Martti unangenehm wurde.
An der Uni flüchteten die beiden aus dem Pod. In ihrer Eile verhedderten sie ihren Koffer in der Tür. Martti ließ sich an einem Arm aus dem Gepäcknetz herab. Der Anblick ließ die Männer einfrieren, was Edgar die Gelegenheit gab, den Koffer mit dem kleinen Finger anzuheben und so zu befreien. Als die Studenten das Dock verlassen hatten, war von den Handwerkern nichts mehr zu sehen. Martti führte Edgar zu seiner Wohnung.
»Ich gehe zuerst rein. Leon hat … eigenartige Ansichten. Sollte es zu einem … Zwischenfall kommen, musst Du dazwischengehen.«
»Ein Purist?«
Martti schüttelte den Kopf. Er kannte den Begriff zwar nicht, aber Edgars Tonfall erklärte die Bedeutung eloquenter als ein ganzes Buch. »Sagen wir, er hat seine Ansichten über die Welt primär aus dem Fernsehen.«
Als sie die Tür erreichten, klopfte Martti. Ohne Fingerknöchel blieb der Effekt überschaubar. Mit einem Seufzer zog er sein Tablet aus der Tasche. Leons Nummer war zwar nicht mehr in der Kurzwahlliste, aber immer noch gespeichert.
»Mach auf. Ich will mein restliches Zeug holen«. Martti wartete nicht mal auf eine Antwort, bevor er wieder auflegte.
»Ich hätte es Dir geschickt. Es gibt keinen Grund, es persönlich abzuholen.« Leon blockierte den Durchgang, so als könnte er irgendwen aufhalten.
»Doch. Zeit. Ich brauche mein Zeug jetzt und nicht, wenn Du in die Gänge kommst.« Martti machte einen Schritt auf die Tür zu.
Leon zuckte, blieb aber stehen. Er griff nach der Tür.
Martti unterdrückte einen Seufzer. »Lass mich bitte rein.«
»Du wohnst hier nicht mehr.«
»Leon, gib den Weg frei. Bitte. Ich bin Dir nicht böse. Du hast getan, wovon Du glaubst, dass es richtig ist.«
»Geh, bevor ich die Polizei rufe.«
Martti schaute aus seiner Kapuze heraus Leon in die Augen. Nach einer Sekunde kam er zu einer Entscheidung. Zwei Arme schlugen die Kapuze zurück, die anderen streiften die Ärmel zurück. Gleichzeitig streckte Martti die Tentakel. Er war zwar lange nicht so groß wie Edgar, aber größer als Leon. Und deutlich besser im Training.
Leon starrte Marrti mit aufgerissenen Augen an. Sein Blick zuckte vom Gesicht zu den Händen, wieder zum Gesicht und schließlich zu den anderen Händen. Als sich die Starre löste, versuchte er, die Tür zuzuschlagen.
Martti fing sie mit den linken Händen ab. Die rechten packten Leons Handgelenke. Das waren die einzigen Stellen an denen es ihm keine Schmerzen bereiten würde. So fixiert führte Martti Leon ins Wohnzimmer. Dort drückte er ihn sanft aufs Sofa.
»Edgar, komm rein. Der rechte Schreibtisch. Alles darauf oder darin packen wir ein.«
Leons verschreckte Miene veränderte sich. Martti kannte den Ausdruck. Er war für Rüpel und Tyrannen reserviert. Für Leute, die sich über Leon lustig machten. Und jetzt offenbar auch für Mutanten. Und Martti.
»Du hast mich an die Uni verpfiffen. Warum?«
Leons Augen wurden wieder groß. »Woher weißt Du das?«
»Nur wenige Leute wussten von meiner Mutation. Sich im Park zu treffen und die Telefone zu Hause zu lassen war schlau. Du und Perrin habt lediglich übersehen, dass der Rest des Campus mit Kameras übersät ist. Also, warum?«
»Du bist ein Mutant und Mutanten … gehören … zu ihresgleichen.«
Martti schluckte. Er war sich sicher gewesen, dass Leons eingebildetes Pflichtbewusstsein ihn dazu gezwungen hatte, Perrin zu kontaktieren. Dass seine Intoleranz so weit ging, ein Jahrzehnt Freundschaft dafür zu opfern, überraschte Martti. Er ließ Leon los. Wortlos wandte er sich dem Schreibtisch zu.
»Du bist mit ihm zusammen aufgewachsen«, fragte Edgar.
Martti nickte. Im Gegensatz zu Edgar hatte er seine Kapuze nicht wieder aufgesetzt.
»Als er damals aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sahen alle nur die Narben. Keiner wollte was mit ihm zu tun haben. Ich war grade wieder aus einer Pflegefamilie ins Waisenhaus zurückgekommen. Also hat man uns ins nächste freie Zimmer gesteckt. Dabei ist es geblieben.«
»Und er hat dafür gesorgt, dass der Rektor Dich rauswerfen wollte?«
»Indirekt und unabsichtlich. Er glaubte, das Richtige zu tun. Er hat getan, was man ihm von klein auf beigebracht hat: Melde Mutanten. Für ihn bin ich kein Mensch mehr. Der Martti, mit dem er aufgewachsen ist, hat ihn allein gelassen. Genau wie seine Eltern. Genau wie alle Pflegeeltern, die ihn abgelehnt haben. Das macht ihn wütend.«
»Du hast sehr viel Verständnis. Ich wüsste nicht, ob ich das so einfach wegstecken würde.«
Martti schaute zu Edgar hoch. »Das sind zwei verschiedene Dinge. Ja, ich habe Verständnis für Leon. Er kann nicht anders. Das heißt nicht, dass es mir egal ist. Irgendwann wird irgendwer die Wut und Enttäuschung über Leon, über die Gesellschaft, die seine Einstellung hervorgebracht hat, zu spüren bekommen.«
Edgar lief es bei dem Tonfall, kombiniert mit Marttis Lächeln, kalt den Rücken hinunter. Er verstand auf einmal, was die Leute mit in einen Abgrund blicken meinten. Dieser Abgrund hatte nicht nur zurückgeschaut, er hatte gelächelt und mit vier Armen gewunken.
Ein Pod mit vier Plätzen und Frachtabteil dockte an. Zwei Plätze waren von einem kleinen Jungen und seine Mutter besetzt. Sogar Edgar bemerkte, dass die Mutter sich schwer beherrschen musste, ihr Kind nicht an sich heran zu ziehen. Wortlos verstauten sie die Kartons und Geräte in den Fächern.
»Hallo«, sagte Martti, als er sich setzte. »Das ist Edgar, ich bin Martti.«
Der Junge musterte Edgar kurz von oben bis unten, dann konzentrierte er sich auf Martti. »Ich bin Josh. Das ist meine Mama.«
Martti nickte der Frau kurz zu, dann zog er sein Tablet hervor. Seykey hatte ihm eine Bücherliste gegeben und eine Deadline. Er war durch seine Nachforschungen, wer ihn an die Uni verraten hatte, etwas im Rückstand.
Josh zappelte auf seinem Sitz herum. Selbst wiederholte Ermahnungen brachten ihn nicht zur Ruhe. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Martti.
Als es ihm zu unangenehm wurde, steckte der Student das Tablet ein.
»Also gut. Stell Deine Frage.«
Joshs Augen wurden riesig. Es schien ihn zu überraschen, dass Martti wusste, dass er etwas fragen wollte.
»Bist Du … Bist … BistDuDasMonsterUnterMeinemBett?«
»Josh«, rief die Mutter. »Sowas sagt man nicht! Entschuldige Dich! Sofort!«
Martti hob die Hand. Die Mutter starrte das Tentakel kurz an, dann schien sie die Geste zu akzeptieren. Drei Finger oder fünf, ›Kein Problem‹ war verständlich.
»Ja. Bin ich«, sagte Martti.
Die Mutter und Edgar keuchten synchron.
»Ziehst Du aus?« Der Junge klang eher neugierig als erleichtert.
»Ja. Mir reichts!«
»Wieso?«
Martti schaute Josh in die Augen. »Du hast keine Angst mehr vor mir. Du bist zu groß und zu mutig geworden.«
Josh wuchs in seinem Sitz um ein paar Zentimeter. »Genau. Ich habe Dich besiegt.«
Martti rollte seine Tentakel auf. Für den Jungen musste es aussehen, als schrumpfte er. Für den Rest der Fahrt bekam Josh das Grinsen nicht aus dem Gesicht.
Als sie in Foundation Central ausstiegen, lehnte sich Martti zur Mutter hinüber, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
»Wenn die Albträume nicht aufhören, rufen Sie die Nummer an, die ich Ihnen geschickt habe. Das ist ein Psychologe, der einem Freund von mir sehr geholfen hat. Er ist sehr diskret und … einer von Ihnen.«
Josh drehte sich um. Er winkte dem abfahrenden Pod hinterher.
Edgar schlug die Kapuze zurück. Das Erstaunen war ihm anzusehen. »Das war … merkwürdig.«
»Hattest Du erwartet, dass ich dem Jungen den Kopf abbeiße?«
Edgar schwieg. Die Antwort gab er trotzdem.
»Dann hast Du gerade etwas über mich herausgefunden.« Martti lächelte verlegen.
»Dass Du nett zu Kindern bist? Ist das so ein Geheimnis?«
»Dass ich den Menschen so begegne, wie sie es verdient haben. Das ist keine emotionale Reaktion, das ist eine wohl überlegte Entscheidung. So etwas macht Leute nervös.«
Edgar musterte Martti. »Mich nicht. Ich frage mich grade nur, wer entscheidet, was sie verdient haben?«
Martti kicherte. »Ich tue das. So wie jeder andere Mensch auch.«
»Was meinst Du?«
»Die einzig freie Entscheidung, die jeder Mensch hat, ist die, wie er mit anderen Menschen umgeht. Selbst die schlimmsten Diktaturen der Geschichte konnten das nicht verhindern. Verstehst Du, was das bedeutet?«
Edgar schüttelte den Kopf.
»Wer auch immer verdient hat, dass ich ihm den Kopf abbeiße, für den wird es kein schöner Tag werden.«
Submitted: February 16, 2025
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