Reads: 7

»Bin ich jetzt also offiziell einer von Euch?« Martti schaute auf Seykeys Bildschirm. Das tomographische Bild eines jungen Mannes mit vier Armen und vier Beinen drehte sich langsam um sich selbst. Daneben liefen biometrische Informationen vorbei.

»Deine Physiologie ist stabil.«

»Cool. Kriege ich jetzt ein geheimes Abzeichen? Oder wenigstens eine schicke Uniform?«

Seykey rümpfte die Nase. »Wir sind echte Menschen, keine Comic-Figuren. Das weißt Du schon?«

Martti kicherte. »Ist eine verdammt gute Tarnung. Jeder weiß doch, dass ihr eine geheime Mutantenarmee im Keller züchtet.«

Seykey seufzte. Offenbar war Martti nicht der Erste, der die Animationsfilme als Dokumentationen verstanden hatte. »Ich hatte Dich für etwas intelligenter gehalten.«

»Leon hat das immer geschaut. Das färbt ab.«

Seykey drehte sich um. »Vermisst Du ihn? Er war Dein einziger Freund, richtig?«

»Er ist mein Bruder und wird es immer sein. Dass ich ihn momentan nur per Video sehe, ändert daran nichts.«

»Du hast Dich mit Edgar angefreundet. Das ist gut. Er braucht einen Freund.« Seykey schaute Martti in die Augen. Im Gegensatz zu den meisten Leuten zuckte sie nicht von blauen zum grünen.

»Wenn man das so nennen kann. Unser buddelndes Sonnenscheinchen macht es einem nicht gerade einfach …«

»Gut. Dann wird es Dir …«, begann Seykey.

»… nicht aus dem Fenster zu springen«, fügte Martti nach einer Pause hinzu.

»… nicht schwerfallen, mit ihm zu trainieren. Anstelle der Physiotherapie habe ich Dich für Kampfsport angemeldet.«

Martti suchte nach Anzeichen für einen Scherz. »Ich soll lernen, wie ich damit Leuten weh tun kann?« Martti wedelte mit einem Tentakel.

»Jemandem einen Herzinfarkt durch mein Aussehen zu geben, reicht Dir nicht?« Martti klang ehrlich bestürzt.

»Du hast vier Arme und vier Beine. Du musst lernen, die zu koordinieren. Unsere Erfahrung zeigt, dass Kampfsport so etwas am effektivsten trainiert.«

Ein leises Knacken verriet, dass Martti die Lamellen seiner Füße angespannt hatte. Er stemmte sich hoch. Ohne Skelett strengte ihn das Stehen an. Er wusste selbst, dass er Training brauchte, aber Seykeys Methode war falsch. Sie schien nicht zu verstehen, dass er alles, was er lernen würde, irgendwann einmal intuitiv einsetzen würde. Der nächste Kontakt mit Daniel konnte also dessen letzter sein.

»Vergiss es! Ich lasse mich von Dir nicht zu dem Monster machen, von dem die Leute glauben werden, dass ich es schon bin.«

Seykey lehnte sich zurück. »Du erscheinst heute Nachmittag zum Training oder Du musst die Akademie verlassen. Du kannst gerne in der Schulordnung nachschauen.«


Martti betrat die Sporthalle eine Minute vor vier. Er trug nur eine Badehose. Das Wetter war warm genug, so über den Campus zu laufen. Er hatte weniger verwunderte Blicke geerntet als erwartet.

Es schien sich um ein offenes Training zu handeln. Schüler verschiedener Altersstufen standen in kleinen Gruppen um eine Sumo-Matte herum. Erstaunlicherweise war Edgar weder der größte, noch der breiteste, noch der ungewöhnlichste. Sie alle trugen eine Art Bademantel und passende Hosen.

»Willkommen, Herr Turunen. Ich bin Sensei Kobayashi«, sagte ein kleiner Mann mit einer unbestimmbaren Anzahl an Jahrhunderten unter dem Schwarzen Gürtel.

Martti nickte, dann stellte er sich neben Edgar.

»Da Herr Turunen neu zu uns gekommen ist, beginnen wir mit der Evaluierung seiner Kenntnisse. Bitte treten Sie in den Ring.«

Martti stellte sich an den Rand.

»Greifen Sie mich an«, befahl Kobayashi von der anderen Seite. Sein Foundation Akzent kratzte über Marttis Geduldsfaden. Trotzdem rührte er sich nicht.

»Na gut, dann eben nicht«, sagte der Sensei. Ohne Vorwarnung durchquerte er den Ring. Im Bruchteil einer Sekunde stand er vor Martti. Einen Moment später flog der Student aus dem Ring. Es war, als hätte Kobayashi einen Sack umgestoßen.

Edgar schien die Metapher wörtlich zu nehmen. Er schob seine Baggerschaufel unter Marrti und kippte ihn dann wieder auf die Beine.

»Danke«, sagte Martti, bevor er seinen Platz im Ring wieder einnahm.

»Verteidigen Sie sich wenigstens!«

Martti blieb still stehen. Kobayashi ging langsam auf ihn zu. Sobald er nahe genug war, versuchte er Martti aus dem Ring zu schubsen. Der wich aus, was den Lehrer ins Stolpern brachte. Kurz vor dem Rand der Arena fing er sich. Martti schaute von außerhalb des Rings zu.

»Wenn Sie den Ring verlassen, verlieren Sie einen Punkt!«

Martti zuckte mit den Schultern.

Kobayashi grunzte. »Sie müssen sich schon etwas anstrengen. Wenn Sie nicht mitarbeiten, zählt die heutige Stunde nicht.«

Martti nahm seine Position im Ring wieder ein. Als Kobayashi erneut nach ihm griff, machte er einen Schritt nach vorn. Die Arme seines Lehrers schlossen sich um seine Brust und er wurde vom Boden gehoben. Martti packte die Schienbeine seines Gegners mit den Beintentakeln. Eine Sekunde später flutschte er aus dem Griff, durch die Beine seines Lehrers.

Kobayashi drehte sich blitzschnell um. Diesmal griff er Marttis Beine, um ihn auszuheben. Der Schüler stützte sich auf die Schultern seines Lehrers, dann zog er die Beine einzeln aus dem Griff.

»Ich glaube nicht, dass es viel zu evaluieren gibt. Dass meine Haut unnatürlich glatt ist, weiß ich bereits«, sagte Martti vom Rand des Rings.

Mit einem wütenden Brüllen stürzte sich der Trainer auf Martti. Mit gesenktem Kopf rannte er wie ein Stier auf den Schüler zu. Anstatt auszuweichen blieb Martti einfach stehen. Ohne Hörner war das Resultat der Kollision recht unspektakulär: Martti wurde aus dem Ring geschoben.

Kobayashi, leicht außer Atem, schloß die Augen, um sich zu beruhigen. Eine Sekunde später fand er sich auf dem Boden wieder, ein Tentakel um den Hals und sieben weitere um Arme, Beine und die Brust gewickelt.

»Das ist gegen die Regeln! Lassen Sie mich sofort los!«

Martti brachte seinen Mund ganz nahe an Kobayashis Ohr. »Das hier sind meine Kenntnisse.«

Mit unmerklichen Bewegungen zogen sich die Arme zusammen. Wie Schlangen krochen die Tentakel übereinander.

»Sie sind ein Feigling! Kämpfen Sie fair«, keuchte Kobayashi.

Mit einem Stöhnen hob Martti seinen Lehrer auf die Beine. »Ha! Fair! Wie passend! Ein Schnösel aus Foundation predigt Fairness und greift einen untrainierten Jungen aus New Horizons an!«

Die beiden starrten sich schwer atmend an.

»Sie haben noch viel zu lernen! Wenn Sie es im Leben zu etwas bringen wollen, müssen Sie sich an die Regeln halten. Das gilt im Sport, im Beruf, … überall.« Kobayashis Gesicht glühte.

Martti kicherte. »Klar doch. Eure Regeln. Regeln, die so gestaltet sind, dass jemand wie ich niemanden stört und auf gar keinen Fall etwas vom Kuchen abkriegt. Erstaunlich ist nur, dass Ihr das Euren Kindern auch eintrichtert. Wahrscheinlich glaubt Ihr es deshalb selber.«

Kobayashi machte einen Schritt, der schneller als das Auge war. Er schnappte Marttis Arm, rollte ihn über seine Schulter und warf ihn aus dem Ring. Wortwörtlich.

Trotzdem war das Ergebnis weniger schmerzhaft als Kobayashi wohl geplant hatte. Martti rollte sich ab und kam aus der Bewegung auf die Beine. Das Knacken verriet, dass er seine Lamellen eingesetzt hatte.

»Sandy! Du übst mit Herrn Turunen die Formen. Vielleicht ist er bereit, etwas weniger kompetitives zu tun.«

Sandy stellte sich als Zweitklässlerin heraus, die nur einen Arm hatte. Der setzte auf ihrem Rücken an, kurz unterhalb des Nackens. Zum Ausgleich verfügte sie über drei Ellenbogen, jeder mit der Beweglichkeit eines Schultergelenks.

Die Formen waren eine Reihe von Körperhaltungen, zwischen denen man mit langsamen, fließenden Bewegungen wechseln sollte. Das kleine Mädchen demonstrierte sie mit der Ernsthaftigkeit eines Lehrgangs im Bombenräumen.

Eine Stunde später wankte Martti aus der Sporthalle. Die Verrenkungen waren anstrengender, als sie zunächst den Anschein hatten. An der Tür wartete Seykey.

»Ich kann – glaube ich – ausschließen, dass Du mich aus Sadismus in diesen Kurs gesteckt hast. Du wirkst nicht, als hätte es Dir Spaß gemacht zuzusehen, wie ich verhauen werde. Was also ist der wirkliche Grund? Mir meinen Platz im Leben zu zeigen? Die dummen Sprüche auszutreiben?«

Martti suchte in Seykeys Augen nach der Wahrheit.

»Wie ich schon sagte: Koordination und Kraft. Ich hatte wirklich gedacht, dass es Dir Spaß macht, Dich mit anderen zu messen. Du wirkst ehrgeizig.«

»Also gut, ich trainiere. Allerdings nicht bei ihm!« Martti zeigte mit einem Beintentakel über seine Schultern.

»Du kannst den Kurs nicht mehr wechseln. Das Semester hat schon angefangen.«

Martti kicherte. »Ich darf zweimal im Jahr den Sportkurs wechseln. Artikel 17, Paragraph 3, wenn Du mir nicht glaubst. Da steht nichts von Semestern.«

Seykey schaute Martti in die Augen. »Für den Moment glaube ich Dir. Ich werde es auf jeden Fall nachprüfen. Zu welcher Sportart willst Du wechseln? Wasserball? Klettern? Parcour?«

Marti schüttelte den Kopf. »Rhythmische Sportgymnastik.«

Die Federn auf Seykeys Kopf richteten sich vor Überraschung auf. Martti war schon lange verschwunden, als sie sich wieder legten.


Submitted: February 16, 2025

© Copyright 2025 Joe X. Kalubier. All rights reserved.

Chapters

Add Your Comments:


Facebook Comments

More Science Fiction Books

Other Content by Joe X. Kalubier