Reads: 11

Martti wachte abrupt auf. Bevor er richtig munter war, wurde ihm klar, dass er seine Abschlußprüfung verschlafen hatte. Blitzschnell stand er auf. Erst an der Tür bemerkte er das Halbdunkel. Weder Carro noch Pallu waren aufgegangen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es drei Uhr morgens war.

Der Student kehrte zu seinem Bett zurück. Als er sich gerade hinlegen wollte, bemerkte er ein Kribbeln im rechten kleinen Finger.

›Verdammt! Schon wieder eingeschlafen!‹ Martti schüttelte die Hand.

Das Kribbeln blieb. Nach einem erneuten Versuch legte er sich hin. Noch vier Stunden, dann wartete ein weiteres Kapitel seiner Masterarbeit auf ihn. Martti zwang seine Gedanken weg von der Arbeit. Der Finger kribbelte immer noch.

Martti konzentrierte sich darauf, seine Gedanken zu leeren. Die Arbeit verschwand. Das Kribbeln rückte in den Hintergrund. Er schlief ein.


Seit zwei Stunden schrieb Martti jetzt ohne Pause. Die Worte flossen aus seinen Fingern in die Tastatur. Mit einer theatralischen Geste setzte er einen Punkt, dann legte er die Hände in den Schoß. Er las noch einmal die letzten Abschnitte. Irgendetwas klang komisch. Nervös spielte er mit den Fingern.

Erst beim dritten Durchlesen merkte er, dass es seine Finger waren, die sich komisch anfühlten. Er konnte den kleinen Finger und den Ringfinger fast senkrecht aufstellen; aus eigener Kraft und in Richtung des Handrückens, wenn er die Finger gleichzeitig bewegte.

Mit einem staunenden Kopfschütteln klappte Martti den Laptop zu. Er hatte noch zehn Minuten, dann schloß die Mensa. Wenn er also nicht schon wieder Delikatessen aus der Dose wollte, musste er sich beeilen.


Einen ungestörten Nachmittag später – Leon bereitete sich zusammen mit Kommilitonen auf eine Wiederholungsprüfung vor – klappte Martti erneut den Laptop zu. Für dieses Kapitel hatte er hoffentlich die richtige Mischung aus Analyse und Alarmismus getroffen.

Dass ein so grundlegender Designfehler in der Infrastruktur des Netzes so lange verborgen geblieben war, grenzte an ein Wunder. Die Offenlegung des Fehlers war also nicht dringend. Sie würde bis zur Abgabe der Arbeit warten können. Wäre die Uni flexibler bei ihren Terminen, könnte das Netz schon in zwei Wochen deutlich sicherer sein. So würde es bis zum geplanten Abgabetermin in vier Monaten dauern.

Nach einem herzhaften Gähnen wischte sich Martti die Augen. Jedenfalls versuchte er es. Während die Finger seiner linken Hand den Dreck aus seinen Augenwinkeln entfernten, landete die Spitzen seiner rechten Hand auf dem Nasenrücken. Verwirrt legte er seine Handflächen aufeinander. Die rechten Finger waren zwei Zentimeter länger als die linken.

Martti fuhr es kalt über den Rücken. Er hatte sich den New-Horizons-Virus geholt! Er erinnerte sich an eine Reportage, die er als Kind gesehen hatte. Der Virus, mit der Grippe verwandt und mit einen unaussprechlichen Namen versehen, provozierte eine Überreaktion des Immunsystems, die die Knochen auflöste.

Der Student brauchte einen Moment, sich zu erinnern, dass alle Menschen während des Krieges geimpft worden waren. Die Impfung baute sich in das Erbgut ein. Somit waren alle Nachkommen des Geimpften ebenfalls immun. Da seine Eltern offensichtlich noch nach dem Krieg am Leben gewesen sein mussten, hatten sie ihm wenigstens das vererbt.

Damit blieb nur, wovor jeden Tag zahlreiche Werbespots warnten. Er beachtete sie schon seit langem nicht mehr, wie so viele andere Menschen. Und er war viel zu alt, um davon betroffen zu sein. Es war ganz sicher keine Mutation. Es konnte keine sein.

Jeder wusste, dass Mutationen nur bei Kindern auftraten. Deshalb war die Akademie halb Schule, halb Krankenhaus. Wenn man den Videos glaubte, die Leon seit ihrer Kindheit schaute, bereitete sie der Professor in einer unterirdischen Trainingsanlage darauf vor, den nächsten Krieg zu führen.

Martti zwang sich zur Ruhe. Was auch immer es war, es war keine Mutation. Damit konnte man arbeiten. Sobald er mit Schreiben fertig war, würde er zum Arzt gehen. Das Dutzend Kapitel konnte er noch warten.

Nach der Krankheit im Netz zu suchen, war aus zweierlei Hinsicht nicht besonders schlau. Zum einen würde die Suche jede Menge Ergebnisse liefern, eine Diagnose immer unwahrscheinlicher als die andere. Das würde ihn nur genauso in Panik versetzen, wie der Gedanke an den Virus. Panik war nicht hilfreich.

Zum anderen würde die Suche das Gesundheitsamt auf dem Plan rufen. Selbst wenn die nur sicherstellen wollten, dass es keine Mutation war, würde es ihn von seiner Masterarbeit abhalten.


Martti spülte die Reste der Rasiercreme weg. Wie immer strich er sich über die Wange, um zu prüfen, ob sich alle Haare aufgelöst hatten. Er ignorierte, dass der kleine Finger und der Ringfinger inzwischen gleich lang waren. Er sah darüber hinweg, dass die Finger bis zur Spitze zusammengewachsen waren. Er verdrängte, dass Mittelfinger und Zeigefinger auf dem besten Wege waren, das gleiche zu tun.

Stattdessen prüfte Martti im Spiegel, ob es weitere Anzeichen gab. Oberhalb des Handgelenks war alles unverändert. Beine, Körper, Gesicht, linker Arm, all das sah ganz normal aus. Die Veränderung der Hautfarbe hin zu einem dunklen Rot endete am rechten Handgelenk. So schlimm konnte es also nicht sein.


»Ich gehe zum Schreiben in den Park. Hier hab ich doch keine Ruhe.« Martti hielt seine rechte Hand hinter dem Rucksack versteckt, den er schräg über der Brust trug.

»Ist gut«, brummte Leon, ohne von seinem Spiel aufzusehen.


Wieder legte Martti seinen Daumen – inzwischen genauso lang wie die anderen beiden Finger – an die Seite der Tasse. Leon war irgendwo unterwegs, also bedurfte es keines Versteckspiels. Konzentriert spannte er ein paar unbekannte Muskeln an, bis sich die glatte Oberfläche anpresste. Vorsichtig hob er die Tasse vom Tisch, nur gehalten vom Luftdruck und den feinen Lamellen auf der Innenseite seiner Finger.

Das Klicken der Tür ließ Martti zusammenzucken. Scheppernd landete die Tasse auf dem Tisch. Schnell versteckte er die Hand vor Leons neugierigem Blick.

»Immer noch beim Schreiben?« Leon gähnte. »Dann lass Dich nicht stören. Ich muss ins Bett.«


Martti hielt seinen Rucksack mit der rechten Hand. Das war inzwischen zu einer Angewohnheit geworden. Mit der linken öffnete er die Tür. Auf dem Weg hinaus spürte er Leons Blick auf seinem Rücken.


»Ich muss die Arbeit noch einmal Korrekturlesen.« Marrti drehte sich zu Leon um. Die rechte Hand wanderte mit der Drehung auf die Rückseite des Stuhls, sodass Leon keinen Blick erhaschen konnte.

»Dann geh ich eben alleine.« Leon klang enttäuscht.

»Sorry. Ich hätte momentan sowieso keinen Spaß an dem Konzert. Ich kann nur noch an meine Arbeit denken. Ich wünsche Dir trotzdem viel Spaß.«

»Oh! Den werde ich haben. Allerdings nur halb so viel, als wenn Du dabei wärst.«

Leon schaute noch einmal zu Martti herunter, der im Schneidersitz auf seinem Sessel saß. Nach ein paar Sekunden schloß sich die Tür hinter ihm.

Martti zog die Hände hinter dem Rücken hervor. Die linke sah immer noch normal aus. Die rechte kribbelte wieder. Er ballte die drei symmetrisch um die Handfläche angeordneten Finger mit ihrer lila Oberseite und der gelben Unterseite zur Faust, dann öffnete er sie so weit er konnte. Zusammen mit der Handfläche bildeten sie eine Ebene.

Inzwischen hatte der Student seine gewohnte Tippgeschwindigkeit wieder erreicht, trotz eines vierzigprozentigen Defizits an Fingern. Die neu gewonnene Flexibilität und Länge kompensierten die Anzahl mehr als genug.

Die Veränderung hatte am Handgelenk aufgehört. Es war also definitiv nicht der New-Horizons-Virus. Der löste alle Knochen gleichzeitig auf, was zu einer Kalzium-Vergiftung führte. Martti war also sprichwörtlich der lebende Gegenbeweis.

Martti redete sich ein, dass es vorbei war. Bis auf eine kleine Delle, die den Handrücken entlang bis zur Spitze des Mittelfingers lief, hatte sich in den letzten Tagen nichts mehr geändert. Die nächste Welle an Panik, die Martti durchflutete, war kaum mehr als eine leichte Aufregung.


Über die nächsten Tage wurde die Delle immer tiefer. Martti bemerkte, dass er den Mittelfinger rechts und links davon getrennt bewegen konnte. So war es keine zu große Überraschung, dass er eines Morgens aufwachte und zwei rechte Hände hatte.

Bis er die Formeln seiner Masterarbeit geprüft, korrigiert und wieder geprüft hatte, hatten sich die verbleibenden Finger geteilt, verdickt und verschoben. So wie vorher eine Hand mit drei symmetrischen Fingern ausgestattet war, waren es jetzt zwei Hände, die am Unterarm ansetzten.

Die Panikattacken waren abgeflaut. Was auch immer mit ihm passierte, es war wohl nicht gefährlich. Selbst wenn es eine Mutation war, ging davon keine Gefahr aus. Natürlich würden die Leute ihn meiden, Angst vor ihm haben und ihn diskriminieren. Also nichts, was sie nicht auch mit einem Waisenkind aus New Horizons machen würden.

Martti war klar, dass er die Veränderungen nicht ewig vor Leon verstecken konnte. Sie lebten jetzt seit zehn Jahren zusammen. Die Stockbetten des Waisenhauses waren zu zwei kleinen Zimmern im Wohnheim geworden, aber sonst verbrachten sie auch weiterhin den größten Teil ihrer Zeit zusammen. Sie teilten sich Wohnzimmer, Küche und Bad. Zu zweit war das ein unbeschreiblicher Luxus gegenüber den Gemeinschaftsräumen ihrer Kindheit.

Es wäre besser, wenn Martti mit der Sprache herausrückte. Leon war zwar nicht besonders fleißig, aber er war nicht dumm. Martti wußte, dass sein Freund ein Geheimnis bewahren konnte und dass er es ihm übel nehmen würde, wenn Martti ihn nicht einweihte.

Das Klicken der Wohnungstür ließ Martti zusammenzucken. Er drehte sich von der Wand weg, die Hand hinter dem Rücken versteckt.

Leon stürmte ins Zimmer. »Wieso hast Du mir das verheimlicht? Vertraust Du mir nicht mehr?«

Martti zuckte zurück. Wie hatte Leon es herausgefunden? »Ähh. Naja, ich wollte es Dir sagen. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen …«

»Der richtige Zeitpunkt? Und wann wäre das? Wenn Du die Arbeit veröffentlicht hast? Wenn es alle anderen auch erfahren?«

Martti stutzte. »Ich hatte gehofft, dass ich die Arbeit fertig bekomme. Ich wollte mich erst darauf konzentrieren.«

Leon seufzte. »Du alter Einzeller! Kannst Du nicht mal mehrere Dinge auf einmal tun? Also los. Zeig’s mir.«

Martti zögerte. Irgendwie war ihm unklar, wie Leon von seiner Hand erfahren haben konnte. Es sollte nicht die geringsten Beweise geben. Trotzdem hatte Leon es irgendwie geschafft. Wenn er sich jetzt weigerte, würde er ihm das für immer nachtragen.

Mit einer eleganten Bewegung zog er den Arm hinter dem Rücken hervor. Er spreizte beide Hände und dann auch die Finger. Dabei behielt er Leon im Blick.

Dessen Blick folgte der Bewegung. Sein Mund öffnete sich, um eine Frage zu stellen. Seine Miene zeigte Verwirrung. Dann schien er zu registrieren, was er da sah. Leon hob den Arm. Zitternd zeigte er auf Marttis Hände.

»W… Was … Was ist d… das?«

»Keine Ahnung. Hat vor zwei Wochen angefangen.« Martti zuckte mit den Schultern. Er hatte sich daran gewöhnt.

»Jetzt bist Du nicht auch noch ein … ein Mutant?«

»Sieht so aus.«

Leon trat einen Schritt zurück. »Und das hast Du mir auch verschwiegen?«

Martti wirkte verwirrt. »Auch? Was noch?«

»Deine Masterarbeit! Du hast den Generalschlüssel zum Netz gefunden.«

»Ahh. Stimmt zwar nicht, aber jetzt verstehe ich. Wie auch immer Du auf diese Idee gekommen bist … Sie ist auf jeden Fall falsch.«

»Aber … Ich hab doch den Titel Deiner Arbeit auf der Seite der Uni gesehen.«

»Und ›Unregelmäßige Laufzeiten des Hanes-Williams-Algorithmus‹ lässt Dich irgendwie darauf kommen, dass man damit das Netz hacken kann?«

Leon nickte. Sein Blick blieb auf Marttis Arm gerichtet. »Das ist jetzt irgendwie nicht mehr so wichtig. Tut das weh?«

In der nächsten halben Stunde beantwortete Martti alle Fragen, die Leon auf ihn abfeuerte. Am Ende traute der sich sogar, die glatte Haut anzufassen.

Schließlich saß Leon auf der anderen Seite des Tisches. Er umklammerte zitternd eine Tasse Tee.

»Das heißt, Du gehst jetzt an die Akademie. Du läßt mich allein.«

»So ist das Gesetz.« Martti zuckte mit den Schultern. Er hatte sich damit abgefunden, dass sich sein Leben verändern würde. An Leon hatte er dabei nicht gedacht.

»Du hast mir versprochen …«

»Ich kann doch nichts dafür, Leon. Es ist passiert, wie ein Unfall oder eine Krankheit. Ich hab mir das nicht ausgesucht.«

»Aber was soll ich denn jetzt machen?«

»Dein Studium fertig? Daran ändert sich nicht. Daniel wird Dich in Ruhe lassen. Du musst Dich nur um die Termine kümmern.«

»Alleine?«

»Alleine. Wie jeder andere Student auch.«

»Aber …«

»Das schaffst Du. Und wenn nicht … Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich ziehe schließlich nur auf die andere Seite von Foundation, nicht nach Pietrocarro.«

Leon und Marrti blieben noch eine Weile still sitzen. Irgendwann ging Leon wortlos in sein Zimmer.


Submitted: February 16, 2025

© Copyright 2025 Joe X. Kalubier. All rights reserved.

Chapters

Add Your Comments:


Facebook Comments

More Science Fiction Books

Boosted Content from Premium Members

Book / Thrillers

Book / Mystery and Crime

Book / Westerns

Short Story / Humor

Other Content by Joe X. Kalubier